Mittwoch, 24. November 2010

Mit Florfliegenflügeln


















Es gibt Dinge, die werde ich mein Leben lang haben, seit gestern weiß ich: Mein Käfer-Kaleidoskop gehört dazu. Immer wieder muss ich es absetzen, ich verstehe nicht, dass es so etwas gibt - Kartoffelkäfer und Puppenräuber, Maikäfer und Feldsandläufer und alle ganz dicht vor meinen Augen. Am liebsten mag ich die Florfliegen. Die kommen, wenn die dicken Käfer nicht da sind. Nur dann filtern ihre milchigen Flügel das Licht.


Neulich habe ich mich gefragt, ob auch wir so sind oder vielleicht unser Leben. Ob auch wir nur sind, was der Augenblick ist, woraus er sich gerade zusammensetzt. Aus den Menschen, die da sind (oder fehlen), die gerade etwas gesagt haben (oder schweigen), das Dunkel (die Gedanken), die Trauer (das Glück), die Ruhe (die Suche). Und all das andere, das sonst noch so ist.


Aber wenn das so ist, dann muss man sich einfach nur drehen. Dann ist das Leben gleich neu und alles auf Anfang und wie es aussieht, bei allem: kein Ende.



Donnerstag, 18. November 2010

Die Koffer voller Fragen

Libellen fliegen nicht mehr, sagt Astrid, das ist nun mal so, das können wir nicht ändern. Was ändern, frage ich, das Gesetz der Natur, sagt sie, es wird doch bald Winter.

Jetzt ist Dreiuhrkonferenz. Ich bin müde. Die Nächte ohne Schlaf stehen um mich herum wie volle Koffer. Ich schleppe sie mit, wohin ich auch gehe.

Woran denkst du, fragt Astrid, dann kommen die Seiten.

...

Sie hat es nicht kommen sehen. Wie hätte sie auch. Ständig am Wegfahren und nirgendwo richtig, nicht bei sich, nicht bei der Arbeit, nicht bei ihm.

Dann hat er es einfach beschlossen. Hat alles für ein Kichern des Schicksals erklärt, für den Kuss auf die Stirn von irgendwem. Sie war zufällig da. Glück fühlt sich anders an, hat sie am Ende gedacht, doch gesagt wie immer nichts.

Mit der Stirn gegen die Wand, jede Nacht. Die Fragen bröckeln herunter. Sie packt ein paar davon in die Koffer.

Im besten Fall hat er das mit dem Winter nicht gewusst. Im schlechtesten war es ihm einfach egal.

Dienstag, 14. September 2010

Montag


Ich halte deine Hand und hole
dich etwas näher ran
Und ich grab mich tief in deine Schulter
und halte den Atem an
Ich will die Wärme deiner Arme
lege sie um mich
und such Geborgenheit
Doch ich merke schon wie sich ein Zweifel regt
Verzeih mir meine Unsicherheit

Hält dein Herz die Nähe aus oder
bin ich dir zu nah
Wird da jetzt ein Abschied draus
oder bleibst du noch da

Ich will keine Grenze überschreiten
und wenn ich sie doch passier
Sagst du alles ist gut aber ich frag mich
will ich zu viel von dir
Das Gedankenkarussell dreht sich viel zu schnell
ich komm immer an wo ich schon war
Denn ich hab noch nicht erreicht
dass die Angst dem Vertrauen weicht
Bist du so lang noch da

Hält dein Herz die Nähe aus oder
bin ich dir zu nah
Wird da jetzt ein Abschied draus
oder bleibst du noch da

Oder bleibst du da

(Text und Musik: Alin Coen)

Samstag, 21. August 2010

Saarbrücken (2)

Ich gehe noch ins Oscars, eine kleine Bar am St. Johanner Markt. Da war ich immer gern, obwohl ich in Saarbrücken nie ein Marktmensch war. Eher ein Viertelkind.

Ins Oscars konnte man trotzdem gehen, da waren immer nette Menschen. Ein Mal im Jahr hat eine Preisverleihung stattgefunden – ein Oscar für den treuesten Gast, einer für den lustigsten, und so weiter. „Den für den betrunkensten habe ich mal gewonnen“, erzählte mir Nikola, mit der war ich damals befreundet. „War ein langer Abend, und am Ende habe ich meine Gläser immer zehn Zentimeter vor dem Tresen abgestellt.“ Ich musste so lachen, auch jetzt wieder, wo ich an diesem Tresen sitze und daran denke, obwohl das Oscars jetzt Ovid heißt und eine ganz furchtbare Ummzummzbar geworden ist.

Hinter der Bar arbeiten jetzt Scheiteljungs, so würde P. sie nennen. Mit gezupften Augenbrauen und Kevin-Kuranyi-Bärten. Sie müssen dauernd irgendwas reden, obwohl sie nicht reden, eher schreien, die Musik ist ja so laut.

Immerhin läuft Pokal, auf einem Flachbildfernseher, an der Wand gegenüber.

Mittwoch, 18. August 2010

Saarbrücken (1)

Wenn ich eine Kamera hätte, ich würde diesen Moment fotografieren. Versuchen, die Stille in Bilder zu fassen: eine fast leere Obstschale auf dem Zapfhahn. Das alte Radio, das Jazzmusik aus Frankreich spielt.

Der Tresen ist schwarz und aus Holz. Der Typ hinter der Bar trägt eine Schürze, er trägt sie, als wäre er am Morgen mit ihr aufgestanden. „Möchtest du etwas trinken“, fragt sein Blick, die Augen sind groß, er ist nicht von hier. In seinem Rücken stehen Flaschen mit Sirup. Was man hier so trinkt, wenn die Tage warm sind und man am Ende des Nachmittags nur noch Münzen im Geldbeutel hat, keine Scheine. Une Fraise à l’Eau, habe ich damals oft gesagt, aber mit weniger Sirup, sonst wird es zu süß. „Ich nehme einen Riesling, bitte“, sage ich heute, und dann braucht es drei Griffe, bis ein Glas vor mir steht, völlig beiläufig sieht das aus. Für diese Beiläufigkeit würden Bars im Norden jede Summe zahlen.

Die französische Radiomoderatorin sagt ein Stück an, ein Pianist aus der Bretagne. Dann beginnt er zu spielen. Der Typ hinter der Bar spricht mit einer Frau. Hübsch sehen sie aus, denke ich, wie sie da so stehen und reden.

An den Tischen hinter mir sitzen Menschen. Manchmal reden sie miteinander, manchmal auch nicht. Dann schauen sie durch die riesigen Fensterscheiben nach draußen. In den Regen. Es war fast leer, als ich kam, nun füllt sich der Raum, groß ist er nicht. Ich denke an Sven, mit dem ich oft hier war, damals, als ich noch in Saarbrücken wohnte. Wir nahmen Platz, lasen die Karte, er bestellte ein Bier. Ich einen Sylvaner. „Haben die den?“, fragte Sven, „ich glaube nicht“, sagte ich, da kam der Kellner schon und sagte: „Der Sylvaner ist aus.“ „Dann hätt’ ich gern ein Bier“, sagte ich und Sven, kopfschüttelnd: „Absurdes Theater.“

Die Abende mit Sven waren lustig.

An ihn habe ich gestern gedacht. Ansonsten wollte ich eigentlich niemanden sehen.

Montag, 2. August 2010

Tja

Neulich, als sich mein Vater in seinen Betrachtungen über das Leben mal wieder über Großstadtneurotiker ausließ, habe ich gar nichts gesagt. Wir saßen im Wintergarten, mein Blick fiel auf das Nachbarhaus. Da habe ich kurz überlegt.

Neben uns, zur Linken, wohnt Herr B. Wenn Herr B. nachmittags im Garten ist, dann flucht er entweder oder er furzt, in letzter Zeit überwiegt wieder das Furzen. Wir vermuten, dass er geisteskrank ist, was nicht weiter schlimm ist, hätte er nicht neulich mit der Schrotflinte auf die Eichhörnchen in seinem Nussbaum geschossen. Überhaupt, Herr B. und seine Bäume. Sie wuchern über den ganzen Bürgersteig und unser halbes Grundstück, weshalb mein Vater und sein Freund vor kurzem - es war ein Sonntag, zehn Uhr - auf Leitern stiegen und in aller Ruhe ein paar Äste absägten. Als Herr B. aus der Kirche zurückkam hüpfte er durch seinen Garten, als wäre er selbst ein Eichhörnchen auf der Flucht.

Über die Straße wohnt eine Witwe, Frau R., ihr Mann ist irgendwann gestorben. Das Haus hat kein Fenster zur Straße, weshalb sich der Mann, als er noch lebte, einen alten Rückspiegel ans Küchenfenster montiert hatte. Einfach um zu sehen, wer bei uns so ein- und ausging.

Zu unserer Rechten wohnte bis vor einem Jahr Familie Weber. Niemand weiß so recht, wie die Webers zu diesem Haus kamen, auf jeden Fall hatten sie vier Kinder, von denen drei so schnell wie möglich Reißaus nahmen. Nur Agnes blieb bei ihren Eltern. Der Vater war klein und kurzsichtig, die Mutter korpulent und immer am Keifen. Als Agnes und ihr Vater einmal vor der Haustür standen und der Vater nicht sofort das Schlüsselloch traf, sagte Agnes zu ihm: „Ey, ich knick dir gleich einen.“ Später hat sie ihr Geld im Dorfpuff verdient.

Ein Haus weiter wohnt die Familie S. Der Mann ist vor Ewigkeiten ausgezogen. Er war Koch bei der Bundeswehr und fing was mit der Küchenhilfe an, da war Frau S. dann plötzlich alleinerziehend.

Der Mann im Haus neben ihr war immer nett zu uns. Als meine Schwester und ich vor seiner Garagenauffahrt Kettcar fuhren, kam er gern mal dazu und machte einen Spaß. Seine Frau war Alkoholikerin und ist daran gestorben; es heißt, sie habe es nicht ertragen, dass ihr Mann jedes Wochenende mit seinem Motorrad zu Crossrennen fuhr.

Hinten in der Sackgasse stehen ein paar Häuser, von denen ich gar nicht mehr weiß, wer da eigentlich wohnt. In das Haus von Opa Pelzer sind zwei Polen gezogen, die sind ganz nett. Opa Pelzer war früher der Schrecken der Nachbarschaft. Er hinkte und hatte ein Glasauge. Wenn wir vor seinem Haus Fußball spielten, stand er immer am Zaun und meckerte in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Er kam aus Westpreußen, hatte Krieg und Vertreibung überlebt und war bestimmt kein schlechter Mensch. Er war einfach nur ein bisschen verrückt.

Im Haus nebendran gab es vor ein paar Wochen einen Todesfall, der Mann hat sich einfach erschossen. Er hat nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Seine Frau fand ihn tot im Keller, als sie vom Golfen kam. Drei Kinder haben sie insgesamt, und einer der Söhne wird in ein paar Wochen Vater.

Dann kommt die Familie M. Sie haben einen hochbegabten Sohn, er spielte Geige, das hat man oft gehört in der Straße, aber es klang immer irgendwie traurig. Als wenn die Töne gewusst hätten, wie überflüssig sie hier sind. Nach dem Abi hat er Munster fluchtartig verlassen. Seinen Vater habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Es heißt, er sei depressiv und säße Tag für Tag im Keller und schaue Fernsehen.

Und schließlich, im Haus gegenüber, wohnt das Ehepaar W. Sie haben zwei Töchter und einen Sohn, der wohl schwul ist, aber geoutet hat er sich nie. Wahrscheinlich würde sich sein Vater dann auch umbringen oder nur noch im Keller sitzen und fernsehen.

Das habe ich mir alles mal so überlegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass mir jeder Großstadtneurotiker lieber ist als das Gruselkabinett in der Straße meiner Eltern.





Das auf dem Foto ist übrigens Frau Unke. Das Ehepaar Unke lebt seit letztem Sommer in unserem Kellereingang. Sie sind sehr freundlich, leben aber eher zurückgezogen.
Sie sind mir noch immer die liebsten Nachbarn.

Donnerstag, 15. Juli 2010

Gefunden

Im Wohlers Eck haben sie auch Fußball geguckt, jedes Spiel. Als ich Montagabend vorbeischaute, da waren sie noch ganz erfüllt davon. Das hat mich gefreut. Sofian stand vor mir und war stolz wie Bolle. „Wir hatten Bratwürste auf dem Menü, und Malte hatte eine eigene Sauce dazu gekocht, die war so gut, dass die alten Damen gleich eine zweite bestellt haben.“ Da musste ich lächeln, die alte Damen sind nämlich ein bisschen geizig, zumindest die eine, die immer so laut spricht, aber sie tut das ja nur, weil die andere so schwer hört. Sofian kramte einen Fotoapparat unter dem Tresen hervor, „schau mal, so viele Leute waren hier“, sagte er und zeigte aufs Display, „da kamen ja fast die Autos nicht mehr durch“. Dann hat er mir ein Glas Wein hingestellt.

Dienstag, 13. Juli 2010

Von Ronny, Nancy und Schakkeline

Was macht ein Traum, den gerade niemand träumt?
Ich hab mich das heute gefragt, weil der eine in meinem Kopf ist und der andere nicht auftaucht, Berlin ist ausgeträumt, die WM-Wochen sind tatsächlich vorüber. Ich bin zurück in Altona. Und nichts fühlt sich an, als wäre es irgendwie wahr.

Ich werde das nie vergessen: den letzten Tag bei der Berliner Zeitung. Ich werde ihn einpacken, in ein dickes Tuch, in eine Kiste legen, damit ihm nichts passiert. Weil mir gerade keine schöneren Momente einfallen als diese: Wie wir mittags in unser Essen lachen, weil Martin Geschichten aus dem Osten erzählt, von Ronny, Nancy und Schakkeline. Wie wir den Kuss von Iker und Sara anschauen und darum streiten, was Liebe auf den zweiten Pfosten ist. Wie auf einmal die letzte Ausgabe fertig ist. Wie Markus sagt: „Tja. Das war sie. Die WM.“ Und uns allen komisch wird. Keiner etwas sagen will. Keiner gehen mag.

Das England-Trikot, das ich zum Abschied bekommen habe, liegt neben mir auf der Couch. Es leuchtet rot und weiß und wunderschön.

Ich denke an Paul, den Kraken aus Oberhausen.

Frau Kruse hat gefehlt.

Und noch so vieles mehr

Für meine Oma, Gerda Sobottka, war der 24. Juli 1943 das Ende allen Lebens, das sie bis dahin gelebt hatte. Der 24. Juli 1943 war ein Tag mitten im Krieg. Meine Oma war auf dem Weg zum Luftschutzbunker, doch die Engländer waren schneller. Als die Feuerbomben fielen, liefen ihr Mann und ihre drei Kinder ein paar Meter vor ihr her - sie verbrannten, bei lebendigem Leib.

Meine Oma überlebte. Man schickte sie nach Bayern, dort sollte sie sich erholen. Mitten in einem Krieg, den sie nicht begonnen hatte, den sie nicht wollte, den sie nicht verstand. Die Haut hing in Fetzen an ihrem Körper herunter. Bis zu ihrem Tod trug meine Oma die Narben des Hamburger Feuersturms an ihrem Körper.

So lernte sie meinen Großvater kennen. Er war gerade heimgekehrt, schwer verletzt, vom Krieg an der russischen Front.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit die beiden miteinander verbrachten. Aber sie müssen sich sehr gemocht haben. Meine Oma war eine herzensgute Frau. Sie hatte Verständnis für alles und jeden. Wann immer später in ihrem Leben ein Staubsaugervertreter vor ihrer Tür stand, bat sie ihn herein und kochte Kaffee. Und natürlich unterschrieb sie ihm alle Verträge. Mein Vater konnte ganz wild werden, wenn er davon erfuhr.

Mein Vater wurde geboren, bevor Deutschland kapitulierte. Als meine Oma mit ihm schwanger wurde, war sie 39, da fing das ganze Dorf an, über sie zu reden. Diese Dirne aus Hamburg, die habe es doch mit jedem getrieben. Meine Oma sah das anders. Sie zog vor Gericht, mein Opa erkannte die Vaterschaft an. Das war 1945, im katholischen Bayern. Ihren Sohn ließ sie taufen, da kannte sie nichts. Obwohl sie protestantisch war. Tags darauf wurde die Kirche im Dorf neu geweiht.

Fünf Jahre später kehrte meine Oma ins kriegszerstörte Hamburg zurück, eine Frau Mitte Vierzig, ein kleines Kind an der Hand - was sie damals dachte, als sie durch die Trümmer hindurchfuhr, auf der Suche nach irgendwelchen Verwandten, ich hätte sie so gern gefragt.

Als mein Vater 50 wurde, haben wir ihm eine Reise nach Rotthalmünster geschenkt - das Dorf, in dem er geboren wurde. Und er fuhr tatsächlich hin, zum ersten Mal. Klopfte an die Tür seines Vaters, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Eine alte Frau hat die Tür aufgemacht, der Hans sei gerade einkaufen, hat sie gesagt, dann muss sie es gemerkt haben: dass der Mann, der vor ihrer Tür stand ein bisschen aussah wie der Mann, den sie gerade einkaufen geschickt hatte.

Als der Hans, mein Großvater, vom Einkaufen zurückkam, musste er sich erst einmal setzen. Er lebte noch ein paar Jahre, alle sagen, dass es wundervolle Jahre für ihn waren. Er sei noch einmal ein ganz anderer Mensch geworden, lustig und erleichtert. Ich habe ihn auch so erlebt. Ganz lieb und beinahe kindisch. Als hätte ihm jemand eine Last von den Schultern genommen. Und so war es wohl auch.

Meine Oma hätte das nicht verstanden. Das wusste mein Vater, er hätte den Opa nicht aufgesucht, hätte sie noch gelebt. Am 27. September, vor 20 Jahren, ist sie gestorben. Es war der 14. Geburtstag meiner Schwester. Als wir die Nachricht bekamen, dass die Oma ins Koma gefallen ist, sind wir ganz schnell zu ihr hingefahren.

Mittwoch, 9. Juni 2010

Mein WM-Quartier

Seit einer Woche habe ich mein WM-Gefühl zurück. Es hat lange gedauert, die vergangenen Monate waren einfach zu mühsam. Der HSV hat mir so viel abverlangt, so viel Ärger und Frust, da war ich froh, dass mein bester Freund ein St.-Pauli-Fan ist - und großzügig dazu. Er hat mir viel von seiner Freude abgegeben. Am Tag des Aufstiegs habe ich ihn sogar im Jolly Roger besucht, und zugegeben: Ich musste mich ein bisschen überwinden. Aber dann war es großartig. Ich glaube, ich habe noch nie so viele lustige, betrunkene und friedliche Fans auf einem Haufen gesehen. Auf unserem Nachhauseweg stand dann plötzlich dieses Sofa vor uns, mitten am Paulsenplatz. Es regnete. Sven meinte: "Wart mal." Dann ist er hoch in seine Wohnung, hat zwei Gläser und eine Flasche Sambuca geholt. Da saßen wir dann im strömenden Regen, bestimmt noch eine Stunde, und haben über Hamburg, die Liebe und den Fußball gesprochen. Das war die schönste Aufstiegsfeier meines Lebens.

Und jetzt ist endlich das WM-Gefühl wieder da. Dieses Kribbeln, das ich noch aus meiner Kindheit kenne und das man nicht erzwingen kann. Es ist in der zweiten Halbzeit Deutschland gegen Bosnien passiert. Weil da plötzlich etwas über dem Platz lag, das man nicht greifen konnte, in ganz wenigen Spielen geht mir das so. Im Eröffnungsspiel der WM 2006 zum Beispiel, als Philipp Lahm das 1:0 schoss. Oder im Champions League Finale 2005, als Liverpool die märchenhafteste zweite Halbzeit der Fußballgeschichte spielte.

Ich kann dieses Etwas bis heute nicht in Worte fassen. Ich freue mich einfach nur, wenn es da ist und ich es spüre.

Heute ist es noch ruhig in der Redaktion. Ab Freitag beginnt dann der Wahnsinn, der ganz normale WM-Wahnsinn. 16 Seiten, wie die Süddeutsche Zeitung, werden wir nicht hinkriegen. Aber mit sechs haben wir auch schon gut zu tun. An meinem Bildschirm klebt Tim Wiese. Hinter mir hängen die Handy-Nummern der Südafrika-Fahrer. Mir geht es gut.