Samstag, 21. August 2010

Saarbrücken (2)

Ich gehe noch ins Oscars, eine kleine Bar am St. Johanner Markt. Da war ich immer gern, obwohl ich in Saarbrücken nie ein Marktmensch war. Eher ein Viertelkind.

Ins Oscars konnte man trotzdem gehen, da waren immer nette Menschen. Ein Mal im Jahr hat eine Preisverleihung stattgefunden – ein Oscar für den treuesten Gast, einer für den lustigsten, und so weiter. „Den für den betrunkensten habe ich mal gewonnen“, erzählte mir Nikola, mit der war ich damals befreundet. „War ein langer Abend, und am Ende habe ich meine Gläser immer zehn Zentimeter vor dem Tresen abgestellt.“ Ich musste so lachen, auch jetzt wieder, wo ich an diesem Tresen sitze und daran denke, obwohl das Oscars jetzt Ovid heißt und eine ganz furchtbare Ummzummzbar geworden ist.

Hinter der Bar arbeiten jetzt Scheiteljungs, so würde P. sie nennen. Mit gezupften Augenbrauen und Kevin-Kuranyi-Bärten. Sie müssen dauernd irgendwas reden, obwohl sie nicht reden, eher schreien, die Musik ist ja so laut.

Immerhin läuft Pokal, auf einem Flachbildfernseher, an der Wand gegenüber.

Mittwoch, 18. August 2010

Saarbrücken (1)

Wenn ich eine Kamera hätte, ich würde diesen Moment fotografieren. Versuchen, die Stille in Bilder zu fassen: eine fast leere Obstschale auf dem Zapfhahn. Das alte Radio, das Jazzmusik aus Frankreich spielt.

Der Tresen ist schwarz und aus Holz. Der Typ hinter der Bar trägt eine Schürze, er trägt sie, als wäre er am Morgen mit ihr aufgestanden. „Möchtest du etwas trinken“, fragt sein Blick, die Augen sind groß, er ist nicht von hier. In seinem Rücken stehen Flaschen mit Sirup. Was man hier so trinkt, wenn die Tage warm sind und man am Ende des Nachmittags nur noch Münzen im Geldbeutel hat, keine Scheine. Une Fraise à l’Eau, habe ich damals oft gesagt, aber mit weniger Sirup, sonst wird es zu süß. „Ich nehme einen Riesling, bitte“, sage ich heute, und dann braucht es drei Griffe, bis ein Glas vor mir steht, völlig beiläufig sieht das aus. Für diese Beiläufigkeit würden Bars im Norden jede Summe zahlen.

Die französische Radiomoderatorin sagt ein Stück an, ein Pianist aus der Bretagne. Dann beginnt er zu spielen. Der Typ hinter der Bar spricht mit einer Frau. Hübsch sehen sie aus, denke ich, wie sie da so stehen und reden.

An den Tischen hinter mir sitzen Menschen. Manchmal reden sie miteinander, manchmal auch nicht. Dann schauen sie durch die riesigen Fensterscheiben nach draußen. In den Regen. Es war fast leer, als ich kam, nun füllt sich der Raum, groß ist er nicht. Ich denke an Sven, mit dem ich oft hier war, damals, als ich noch in Saarbrücken wohnte. Wir nahmen Platz, lasen die Karte, er bestellte ein Bier. Ich einen Sylvaner. „Haben die den?“, fragte Sven, „ich glaube nicht“, sagte ich, da kam der Kellner schon und sagte: „Der Sylvaner ist aus.“ „Dann hätt’ ich gern ein Bier“, sagte ich und Sven, kopfschüttelnd: „Absurdes Theater.“

Die Abende mit Sven waren lustig.

An ihn habe ich gestern gedacht. Ansonsten wollte ich eigentlich niemanden sehen.

Montag, 2. August 2010

Tja

Neulich, als sich mein Vater in seinen Betrachtungen über das Leben mal wieder über Großstadtneurotiker ausließ, habe ich gar nichts gesagt. Wir saßen im Wintergarten, mein Blick fiel auf das Nachbarhaus. Da habe ich kurz überlegt.

Neben uns, zur Linken, wohnt Herr B. Wenn Herr B. nachmittags im Garten ist, dann flucht er entweder oder er furzt, in letzter Zeit überwiegt wieder das Furzen. Wir vermuten, dass er geisteskrank ist, was nicht weiter schlimm ist, hätte er nicht neulich mit der Schrotflinte auf die Eichhörnchen in seinem Nussbaum geschossen. Überhaupt, Herr B. und seine Bäume. Sie wuchern über den ganzen Bürgersteig und unser halbes Grundstück, weshalb mein Vater und sein Freund vor kurzem - es war ein Sonntag, zehn Uhr - auf Leitern stiegen und in aller Ruhe ein paar Äste absägten. Als Herr B. aus der Kirche zurückkam hüpfte er durch seinen Garten, als wäre er selbst ein Eichhörnchen auf der Flucht.

Über die Straße wohnt eine Witwe, Frau R., ihr Mann ist irgendwann gestorben. Das Haus hat kein Fenster zur Straße, weshalb sich der Mann, als er noch lebte, einen alten Rückspiegel ans Küchenfenster montiert hatte. Einfach um zu sehen, wer bei uns so ein- und ausging.

Zu unserer Rechten wohnte bis vor einem Jahr Familie Weber. Niemand weiß so recht, wie die Webers zu diesem Haus kamen, auf jeden Fall hatten sie vier Kinder, von denen drei so schnell wie möglich Reißaus nahmen. Nur Agnes blieb bei ihren Eltern. Der Vater war klein und kurzsichtig, die Mutter korpulent und immer am Keifen. Als Agnes und ihr Vater einmal vor der Haustür standen und der Vater nicht sofort das Schlüsselloch traf, sagte Agnes zu ihm: „Ey, ich knick dir gleich einen.“ Später hat sie ihr Geld im Dorfpuff verdient.

Ein Haus weiter wohnt die Familie S. Der Mann ist vor Ewigkeiten ausgezogen. Er war Koch bei der Bundeswehr und fing was mit der Küchenhilfe an, da war Frau S. dann plötzlich alleinerziehend.

Der Mann im Haus neben ihr war immer nett zu uns. Als meine Schwester und ich vor seiner Garagenauffahrt Kettcar fuhren, kam er gern mal dazu und machte einen Spaß. Seine Frau war Alkoholikerin und ist daran gestorben; es heißt, sie habe es nicht ertragen, dass ihr Mann jedes Wochenende mit seinem Motorrad zu Crossrennen fuhr.

Hinten in der Sackgasse stehen ein paar Häuser, von denen ich gar nicht mehr weiß, wer da eigentlich wohnt. In das Haus von Opa Pelzer sind zwei Polen gezogen, die sind ganz nett. Opa Pelzer war früher der Schrecken der Nachbarschaft. Er hinkte und hatte ein Glasauge. Wenn wir vor seinem Haus Fußball spielten, stand er immer am Zaun und meckerte in einer Sprache, die wir nicht verstanden. Er kam aus Westpreußen, hatte Krieg und Vertreibung überlebt und war bestimmt kein schlechter Mensch. Er war einfach nur ein bisschen verrückt.

Im Haus nebendran gab es vor ein paar Wochen einen Todesfall, der Mann hat sich einfach erschossen. Er hat nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen. Seine Frau fand ihn tot im Keller, als sie vom Golfen kam. Drei Kinder haben sie insgesamt, und einer der Söhne wird in ein paar Wochen Vater.

Dann kommt die Familie M. Sie haben einen hochbegabten Sohn, er spielte Geige, das hat man oft gehört in der Straße, aber es klang immer irgendwie traurig. Als wenn die Töne gewusst hätten, wie überflüssig sie hier sind. Nach dem Abi hat er Munster fluchtartig verlassen. Seinen Vater habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Es heißt, er sei depressiv und säße Tag für Tag im Keller und schaue Fernsehen.

Und schließlich, im Haus gegenüber, wohnt das Ehepaar W. Sie haben zwei Töchter und einen Sohn, der wohl schwul ist, aber geoutet hat er sich nie. Wahrscheinlich würde sich sein Vater dann auch umbringen oder nur noch im Keller sitzen und fernsehen.

Das habe ich mir alles mal so überlegt und bin zu dem Schluss gekommen, dass mir jeder Großstadtneurotiker lieber ist als das Gruselkabinett in der Straße meiner Eltern.





Das auf dem Foto ist übrigens Frau Unke. Das Ehepaar Unke lebt seit letztem Sommer in unserem Kellereingang. Sie sind sehr freundlich, leben aber eher zurückgezogen.
Sie sind mir noch immer die liebsten Nachbarn.