Donnerstag, 15. Juli 2010

Gefunden

Im Wohlers Eck haben sie auch Fußball geguckt, jedes Spiel. Als ich Montagabend vorbeischaute, da waren sie noch ganz erfüllt davon. Das hat mich gefreut. Sofian stand vor mir und war stolz wie Bolle. „Wir hatten Bratwürste auf dem Menü, und Malte hatte eine eigene Sauce dazu gekocht, die war so gut, dass die alten Damen gleich eine zweite bestellt haben.“ Da musste ich lächeln, die alte Damen sind nämlich ein bisschen geizig, zumindest die eine, die immer so laut spricht, aber sie tut das ja nur, weil die andere so schwer hört. Sofian kramte einen Fotoapparat unter dem Tresen hervor, „schau mal, so viele Leute waren hier“, sagte er und zeigte aufs Display, „da kamen ja fast die Autos nicht mehr durch“. Dann hat er mir ein Glas Wein hingestellt.

Dienstag, 13. Juli 2010

Von Ronny, Nancy und Schakkeline

Was macht ein Traum, den gerade niemand träumt?
Ich hab mich das heute gefragt, weil der eine in meinem Kopf ist und der andere nicht auftaucht, Berlin ist ausgeträumt, die WM-Wochen sind tatsächlich vorüber. Ich bin zurück in Altona. Und nichts fühlt sich an, als wäre es irgendwie wahr.

Ich werde das nie vergessen: den letzten Tag bei der Berliner Zeitung. Ich werde ihn einpacken, in ein dickes Tuch, in eine Kiste legen, damit ihm nichts passiert. Weil mir gerade keine schöneren Momente einfallen als diese: Wie wir mittags in unser Essen lachen, weil Martin Geschichten aus dem Osten erzählt, von Ronny, Nancy und Schakkeline. Wie wir den Kuss von Iker und Sara anschauen und darum streiten, was Liebe auf den zweiten Pfosten ist. Wie auf einmal die letzte Ausgabe fertig ist. Wie Markus sagt: „Tja. Das war sie. Die WM.“ Und uns allen komisch wird. Keiner etwas sagen will. Keiner gehen mag.

Das England-Trikot, das ich zum Abschied bekommen habe, liegt neben mir auf der Couch. Es leuchtet rot und weiß und wunderschön.

Ich denke an Paul, den Kraken aus Oberhausen.

Frau Kruse hat gefehlt.

Und noch so vieles mehr

Für meine Oma, Gerda Sobottka, war der 24. Juli 1943 das Ende allen Lebens, das sie bis dahin gelebt hatte. Der 24. Juli 1943 war ein Tag mitten im Krieg. Meine Oma war auf dem Weg zum Luftschutzbunker, doch die Engländer waren schneller. Als die Feuerbomben fielen, liefen ihr Mann und ihre drei Kinder ein paar Meter vor ihr her - sie verbrannten, bei lebendigem Leib.

Meine Oma überlebte. Man schickte sie nach Bayern, dort sollte sie sich erholen. Mitten in einem Krieg, den sie nicht begonnen hatte, den sie nicht wollte, den sie nicht verstand. Die Haut hing in Fetzen an ihrem Körper herunter. Bis zu ihrem Tod trug meine Oma die Narben des Hamburger Feuersturms an ihrem Körper.

So lernte sie meinen Großvater kennen. Er war gerade heimgekehrt, schwer verletzt, vom Krieg an der russischen Front.

Ich weiß nicht, wie viel Zeit die beiden miteinander verbrachten. Aber sie müssen sich sehr gemocht haben. Meine Oma war eine herzensgute Frau. Sie hatte Verständnis für alles und jeden. Wann immer später in ihrem Leben ein Staubsaugervertreter vor ihrer Tür stand, bat sie ihn herein und kochte Kaffee. Und natürlich unterschrieb sie ihm alle Verträge. Mein Vater konnte ganz wild werden, wenn er davon erfuhr.

Mein Vater wurde geboren, bevor Deutschland kapitulierte. Als meine Oma mit ihm schwanger wurde, war sie 39, da fing das ganze Dorf an, über sie zu reden. Diese Dirne aus Hamburg, die habe es doch mit jedem getrieben. Meine Oma sah das anders. Sie zog vor Gericht, mein Opa erkannte die Vaterschaft an. Das war 1945, im katholischen Bayern. Ihren Sohn ließ sie taufen, da kannte sie nichts. Obwohl sie protestantisch war. Tags darauf wurde die Kirche im Dorf neu geweiht.

Fünf Jahre später kehrte meine Oma ins kriegszerstörte Hamburg zurück, eine Frau Mitte Vierzig, ein kleines Kind an der Hand - was sie damals dachte, als sie durch die Trümmer hindurchfuhr, auf der Suche nach irgendwelchen Verwandten, ich hätte sie so gern gefragt.

Als mein Vater 50 wurde, haben wir ihm eine Reise nach Rotthalmünster geschenkt - das Dorf, in dem er geboren wurde. Und er fuhr tatsächlich hin, zum ersten Mal. Klopfte an die Tür seines Vaters, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Eine alte Frau hat die Tür aufgemacht, der Hans sei gerade einkaufen, hat sie gesagt, dann muss sie es gemerkt haben: dass der Mann, der vor ihrer Tür stand ein bisschen aussah wie der Mann, den sie gerade einkaufen geschickt hatte.

Als der Hans, mein Großvater, vom Einkaufen zurückkam, musste er sich erst einmal setzen. Er lebte noch ein paar Jahre, alle sagen, dass es wundervolle Jahre für ihn waren. Er sei noch einmal ein ganz anderer Mensch geworden, lustig und erleichtert. Ich habe ihn auch so erlebt. Ganz lieb und beinahe kindisch. Als hätte ihm jemand eine Last von den Schultern genommen. Und so war es wohl auch.

Meine Oma hätte das nicht verstanden. Das wusste mein Vater, er hätte den Opa nicht aufgesucht, hätte sie noch gelebt. Am 27. September, vor 20 Jahren, ist sie gestorben. Es war der 14. Geburtstag meiner Schwester. Als wir die Nachricht bekamen, dass die Oma ins Koma gefallen ist, sind wir ganz schnell zu ihr hingefahren.